"Je, Rostock!" - Der Beitrag Mecklenburgs zur burschenschaftlichen Geschichte
Wolfgang Müller-Michaelis (Alte Rostocker Burschenschaft Obotritia)
Nur auf den ersten Blick sind die Beziehungen zwischen dem Nordosten Deutschlands, insbesondere zwischen Mecklenburg mit seiner im nächsten Jahr 580 Jahre alten Universität Rostock und der Frühgeschichte der Burschenschaft eher schwach ausgeprägt. Befaßt man sich eingehender mit dem Thema, kommen überraschende Zusammenhänge zutage, die zu einer Revision des ersten oberflächlichen und weithin vorherrschenden Eindrucks Anlaß geben. Da der Autor kein Fachhistoriker ist, sich aber seit seinem Studium mit der Geschichte des 19. Jahrhunderts und vor allem mit der Zeit der Freiheitskriege und der burschenschaftlichen Frühgeschichte befaßt hat, sei der im folgenden dargestellte Befund vor allem als Aufforderung an junge Historiker, vorzugsweise burschenschaftlicher Herkunft verstanden, sich diesem weithin unerschlossenen, an zeitgeschichtlichen Bezügen reichen Kapitel der deutschen Geistes-, Rechts- und Politikgeschichte etwas intensiver zuzuwenden.
Die deutsche Geschichte weist etliche Phasen auf, deren weichenstellende Bedeutung für die Nachwelt sowohl der Verdichtung revolutionärer Ereignisse als auch der langen Dauer von etwa einer Generation zuzuschreiben ist. Der Dreißigjährige Krieg älte-rer Zeitrechnung (1618-1648), wie derjenige unserer Zeitgeschichte (1914-1945), der von einer historischen Schule um Ernst Nolte wegen seines komplexen Verursachungszusammenhangs so bezeichnet wird, gehören in diese Kategorie. Auch wenn die Epoche der Liberalen Auflehnung gegen die Restauration (1819-1848) bei weitem nicht mit den vorgenannten Umbruchphasen in Bezug auf deren welthistorische Wirkungen vergleichbar ist, hat sie doch für die Entwicklung des modernen Verfassungsstaates und für die Herausbildung demokratischer Strukturen in Deutschland und etlichen anderen westlichen Staaten eine prägende Rolle gespielt. In der herrschenden deutschen Geschichtsschreibung wird ihr dieser Rang merkwürdigerweise nur mit erheblichen Verrenkungen zuerkannt. Es muß wohl erst eines Tages ein junger amerikanischer Harvard-Professor auf den Plan treten, der der Welt die Augen dafür öffnet, daß wir es hier mit einer geschichtlichen Phase zu tun haben, die hinsichtlich ihres geistesgeschichtlichen Ranges und ihrer verfassungspolitischen Errungenschaften wegweisend für unser heutiges Leben in einem liberalen und demokratischen Verfassungsstaat gewesen ist.
Zu den geistesgeschichtlichen Wurzeln, die Rostock und die Urburschenschaft verbinden, gehört nicht zuletzt die mecklenburgische Herkunft der Bezeichnung "Burschenschaft" für eine studentische Gemeinschaft. Dem Sprachforscher und Universitätsdozenten Willy Krogmann (Obotritia Rostock, SS 24, verst. 1967) verdanken wir den Hinweis auf eine Frühphase der Demagogenverfolgung in Mecklenburg bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Nachdem auf Anordnung von Herzog Christian Ludwig der damalige Rektor der Universität Rostock, Erbprinz Friedrich, 1750 eine Auflösung sämtlicher studentischer Verbindungen, die damals in Landsmannschaften oder "Nationes" organisiert waren, verfügt hatte, schlossen sich die Studenten alsbald zu einer allgemeinen und umfassenden Korporation zusammen, die sie erstmalig im deutschen Sprachraum "Burschenschaft" nannten. Dokumentiert ist die "Rostocker Burschenschaft" seit 1781 und nach ihrem Vorbild sind Verbindungen gleicher Bezeichnung anschließend in Frankfurt an der Oder, Dorpat, Kiel, Göttingen, Greifswald, Berlin und Königsberg entstanden. Sie waren aber von ihren Statuten her noch keine politisch orientierten burschenschaftlichen Verbindungen in unserem heutigen Verständnis, auch wenn zu ihren Idealen bereits die Begriffe "Ehre" und "Freiheit" gehörten (1).
Ihr Selbstverständnis war im wesentlichen ständisch, im modernen Sinne verbandspolitisch geprägt. Sie wollten die eine umfassende Vertretung aller Studierenden an der Universität sein und zogen ihre Legitimation aus der totalen Anwendung des demokratischen Prinzips, indem jeder Bursche in voller Gleichberechtigung an der Gestaltung des studentischen Lebens teilhaben sollte. So hieß es im Rostocker Comment jener Zeit: "Die Burschenschaft bildet eine eigene Gesellschaft, gleichsam einen freien Staat und bedarf also gewisser Gesetze. Da in jedem freien Staate die gesetzgebende Gewalt in den Händen jedes Mitglieds ist, so hat auch im Burschenvereine jeder Bursche dieses Recht." (2)
An dieser grundsätzlichen Ausrichtung wurde auch festgehalten, als 1811/12 von den Göttinger Vandalen ausgehende Statutenänderungen vorgenommen und insbesondere der "Göttinger" Korbschläger auf den Rostocker Paukböden eingeführt wurden. Als Couleur der Rostocker Burschenschaft galt bereits damals die noch heute von den Obotriten getragene rote Mütze. In wie starkem Maße auch die Rostocker Burschenschaft im Jahre 1813 "die Wissenschaft mit dem Kampf fürs Vaterland vertauscht" hatte und mit ins Feld gegen die Franzosen gezogen war, ergibt sich aus dem Umstand, daß sie im Sommersemester 1813 nur noch fünfundzwanzig Mitglieder zählte, von denen die meisten Erstsemester waren.
Im Aktivenleben des Mecklenburgers Heinrich Arminius Riemann, Pfarrersohn aus Schönberg (geb. 1793 in Ratzeburg, gest. 1872 in Friedland) kommt die gegenseitige Durchdringung von Befreiungskrieg und Urburschenschaft exemplarisch zum Ausdruck. Als Riemann im Wintersemester 1812/13 zum Studium der Theologie nach Jena kommt, werden die Studenten noch mit Karzer bestraft, wenn sie sich beim Jodeln erwischen lassen, mit dem sie sich untereinander vor herrannahenden französischen Besatzungssoldaten warnen. Im darauffolgenden Sommersemester steht statt des Studiums das Sammeln im Lützowschen Freikorps per Fußmarsch über Dresden in Breslau auf dem Programmpunkt. Das Gemeinschaftserlebnis, zusammen mit russischen und preußischen Bataillonen ins Feld zu ziehen, prägt diese Generation, die sich, inzwischen arg dezimiert erst nach sechssemestriger Unterbrechung zu Ostern 1816 wieder zum Studium immatrikuliert. Riemann, der im Lützowschen Regiment mitkämpfte, war auch bei der Schlacht von Ligny am 16. Juni 1815 dabei, wo von tausend Mann vierhundert gefallen sind. Es muß ein erhebendes Gefühl für die siegreichen Heimkehrer gewesen sein, fast auf den Tag ein Jahr später, am 12. Juni 1816 mit 143 Mitgliedern im "Gasthaus zur Tanne" in Jena die Burschenschaft zu gründen. Als Gründungslied wurde "Was ist des Deutschen Vaterland?" von Ernst Moritz Arndt gesungen und Riemann wurde zum ersten Sprecher gewählt. Er sollte auch der Festredner auf der Wartburgfeier im Oktober des darauffolgenden Jahres sein. Welche Begeisterung muß diese jungen Leute angetrieben haben, die zur Verbreitung ihrer Ideen in den Semesterferien zu Fuß von Jena über Halle nach Berlin und von dort mit kräftiger Aufmunterung durch Turnvater Jahn und in seiner Begleitung weiter auf die Insel Rügen zogen, um dort bei Ernst Moritz Arndt Station zu machen - und selbstredend die Strecke wieder nach Jena zu Fuß zurückzuwandern (3).
Erst im Zuge des Kriegserlebens sollte die Ergänzung des burschenschaftlichen Wahlspruchs durch das "Vaterland" über den aus Mecklenburg stammenden Turnvater Friedrich Ludwig Jahn in die Statuten der ersten Burschenschaft in unserem heutigen Verständnis, der bereits während des Kriegsgeschehens am 1. November 1814 gegründeten Burschenschaft Teutonia Halle Eingang finden, von wo aus sie ihren Weg nach Jena nahm.
Die von Rostock ausgehende Bezeichnung Burschenschaft hatte Jahn in Frankfurt an der Oder kennengelernt, wo sie seit 1798 nachweisbar ist. Nachdem er 1810 als Lehrer an der Plamannschen Erziehungsanstalt und am Grauen Kloster in Berlin angestellt worden war, legte Jahn ein Jahr später dem zweiten Rektor der neugegründeten Berliner Universität, Johann Gottlieb Fichte, einen Entwurf zur "Ordnung und Entwicklung der Burschenschaft" vor, der die Grundidee der Rostocker Satzung aufnahm. In ihm steht der Satz: "Die gesamte Burschenschaft jeder hohen Schule macht ein Ganzes aus, ein freies Gemeinwesen freier Leute." In diesem Sinne wurde der Burschenschaftsbegriff auf Betreiben Jahns von Teutonia Halle übernommen (4).
So nahe beieinander nach dem Sieg über Napoleon die Daten des Wiener Kongresses und der Gründung der Urburschenschaft auch lagen, für die letztere sollte daraus nichts Gutes erwachsen. Zu unterschiedlich war die Bedeutung des Sieges für die an der Wiederherstellung der alten Verhältnisse interessierten Mächte auf der einen und für die nach demokratischer Verfassung und nationaler Einheit strebenden Studenten auf der anderen Seite. So fiel auch in Rostock die "Burschenschaft" genannte allgemeine Studentenverbindung trotz ihrer am Orte gewahrten politischen Zurückhaltung allein ihres Namens wegen wie alle anderen Burschenschaften in Deutschland dem Auflösungsdekret der Karlsbader Beschlüsse vom August 1819 zum Opfer. Zu den Karlsbader Beschlüssen gibt es einen durchaus unrühmlichen mecklenburgischen Beitrag. Herzog Carl von Mecklenburg (ein Halbbruder von Königin Luise) hatte durch Mittelsmänner das Wartburgfest vom Oktober 1817 aufmerksam beobachten lassen, zumal er an maßgeblicher Stelle mitwirkende Studenten als seiner fürstlichen Obrigkeit zugehörige Untertanen erkannte. Er erstattete König Friedrich Wilhelm III Bericht, ähnlich wie dies der russische Staatsrat Alexander Demetrius Graf Stourdza in seinem berühmt gewordenen "Mémoire sur l'état actuel de l'Allemagne" gegenüber dem russischen Zaren tat. Koordinierte Schritte der nach dem Wiener Kongreß zu einvernehmlichem Handeln in Fragen der Restauration bestimmten europäischen Mächte erfolgten aber erst, nachdem der mit hetzerischen Artikeln gegen das Treiben der liberalen deutschen Studenten in der Presse hervorgetretene russische Schriftsteller August von Kotzebue vom Burschenschafter Ludwig Sand am 28. März 1819 in Mannheim ermordet worden war. Noch im Sommer desselben Jahres traf sich Friedrich Wilhelm III in Teplitz/Böhmen mit Fürst Metternich, um die "Punktation von Teplitz" auszuarbeiten, die die Einrichtung einer Geheimen Staatspolizei, Eingriffe in das Postgeheimnis sowie andere Repressalien vorsah, die allesamt Gegenstand der im August 1819 verkündeten Karlsbader Beschlüsse werden sollten (5).
Als Folge dieser Repressionen war, wie an den meisten deutschen Universitäten, auch in Rostock das burschenschaftliche Leben im Jahrzehnt nach 1819 durch Unstetigkeit geprägt. Auflösungen, Neugründungen und ständige Neugruppierungen wechselten ein-ander ab, bis 1827 wieder eine burschenschaftliche Verbindung entstand, die sich "Allgemeinheit" nannte und sich 1828 in die als legitime Nachfolgerin der Allgemeinheit verstehende Arminia und in die "Konstantinisten" aufspaltete, die sich auch "Vandalen" nannten. Offensichtlich hat sich Fritz Reuter, als er im Wintersemester 1831/32 in Rostock eintraf, um sich für das Jurastudium einzuschrei-ben, den Arminen angeschlossen, denn er schrieb später in seinen Erinnerungen, seine der Allgemeinheit angehörenden Bundesbrüder hätten die Kostantinisten als die "Gemeinen" verspottet. Außer seinem Spitznamen "Bierreuter" hat Fritz Reuter während seiner kurzen Rostocker Episode kaum Spuren hinterlassen, zumal es ihn von vornherein ins Zentrum des damaligen burschenschaftlichen Lebens, nach Jena gezogen hatte (6).
Inzwischen waren die Sanktionen, die seitens der Rostocker Universitätsverwaltung in Anwendung der Karlsbader Beschlüsse gegen ertappte Mitglieder der Burschenschaft verhängt wurden, derart verschärft worden, daß sie das burschenschaftliche Leben an der mecklenburgischen Alma mater schließlich für die Dauer von nahezu fünfzig Jahren praktisch lahmlegen sollten. Erst mit der Gründung der Obotritia im Januar 1883, zunächst als akademischer Turn- und Fechtclub nahm das burschenschaftliche Leben in Rostock einen neuen Anfang, was formal mit der Aufnahme als Alte Rostocker Burschenschaft Obotritia in die DB im Jahre 1900 besiegelt wurde.
Die Impulse, die von Mecklenburg und Vorpommern auf die Frühgeschichte der Burschenschaft ausgingen, gründen vor allem in dem Umstand, daß Rostock und Greifswald zu den ältesten deutschen Universitäten gehören. So fand das Bestreben, persönliche Freiheit und Bürgerrechte gegen fürstliche Obrigkeiten und fremdländische Besatzung zu behaupten, das die studentische Jugend am Beginn des 19. Jahrhunderts in der Jenaischen Urburschenschaft zusammenführte, schon als Folge einer jahrhundertealten gegenseitigen geistig-kulturellen Durchdringung des Nordostens und Südostens Deutschlands Widerhall und Unterstützung an den pommerschen und mecklenburgischen Universitäten. War es doch Ernst Moritz Arndt, der seit 1800 Geschichte in Greifswald lehrte, gewesen, der mit seinem Ruf "Das ganze Deutschland soll es sein!" zu einem der geistigen Anstifter des Freiheitskrieges gegen die französische Besatzung geworden war. Darüber hinaus prägten die Empfindungen von "Sturm und Drang" und die Frühromantik als Geist der Zeit das Denken der Menschen in beiden Räumen sowohl im Kulturellen wie im Politischen. Als Inkarnation dieser innigen nordöstlich-südöstlichn Verbindung darf Caspar-David Friedrich, der größte Sohn Greifswalds, gelten, der die Hochzeit seines künstle-rischen Schaffens in Dresden erlebte.
Bezeichnend für das Gemeinschaftserlebnis dieser Zeit in beiden Räumen Deutschlands mag auch gewesen sein, daß der Befreiungskrieg gegen das napoleonische Regime praktisch vor den Toren Rostocks und Greifswalds seine prominentesten Opfer fand: die sächsischen Offiziere des Lützowschen Freikorps, dessen Militärkleidung in Form des altdeutschen schwarzen Rockes mit roten Aufschlägen und goldenen Knöpfen zum Abbild der Farben der Deutschen Burschenschaft wie des liberalen und demokratischen Deutschland werden sollten, Ferdinand von Schill und Theodor Körner, sind bei Stralsund und in Gadebusch im Kampf gegen die Franzosen im Feld geblieben. Noch heute erinnern in Mecklenburg manche Orts- und Straßennamen, so der Ort Lützow bei Gadebusch, an diese historische Begebenheit. Von allgemeinem Interesse dürfte in diesem Zusammenhang sein, daß auf dem ehemaligen Anwesen derer von Schill in Possendorf bei Dresden, wo bis heute der alte Taubenschlag erhalten ist, wie ihn schon Ferdinand von Schill als Kind kannte, eine der landschaftlich schönsten Golfsportanlagen Deutschlands entstanden ist.
Aber es war nicht nur der Zeitgeist, der die Empfindungen der Menschen in den Herzogtümern Pommern, Mecklenburg-Schwerin und Sachsen-Weimar verband. Die Bürger und Studen-ten von Rostock und Greifswald waren mit den Komplikationen und Bedrückungen fremdländischer Besatzung vermengt mit den Repressionen stammesfürstlicher Herrschaft schon aus der Überlieferung historischer Vorlaufentwicklungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert vertraut. Angesichts der heutigen Abgeschiedenheit Mecklenburgs und Vorpommerns von den politischen und geistigen Kraftfeldern im Westen und Süden Deutschlands mag es überraschend erscheinen, daß das Fanal liberalen Aufbegehrens gegen die Obrigkeit, das zum Feldzeichen der Jenaischen Urburschenschaft wurde, bereits vierhundert Jahre vorher (!) in der damals (seit 1419) schon Universitätsstadt Rostock, zu derart starken Unruhen geführt hatte, daß aus ihnen schließlich die Gründung der benachbarten Universität Greifswald im Jahre 1456 hervorging.
Als sich ständische Konflikte in Rostock in den 1430er Jahren derart zugespitzt hatten, daß es schließlich zur Vertreibung des alten patrizischen Rates durch die Handwerkerinnungen kam, verfiel die Stadt 1436 der Reichsacht durch Kaiser Sigismund und wurde obendrein vom Basler Konzil mit Bann und Interdikt belegt. Die der Oberaufsicht der Kirche unterstehende Universität wurde angewiesen, die gebannte Stadt zu verlassen. So kam es, daß die Rostocker Professoren und Studenten für drei Jahre von 1437 bis 1440 in Greifswald Unterschlupf suchen mußten, bis der Bann über Rostock wieder aufgehoben wurde und die Universität ihren Betrieb dortselbst wieder aufnehmen konnte (7).
Die Greifswalder Bürger indes hatten während dieses dreijährigen Intermezzos an den flotten Rostocker Studenten derart Gefallen gefunden, daß sie unter Führung von Heinrich Rubenow, der selbst in Rostock Jura studiert hatte, beim Papst in Rom den An-trag auf Gründung einer eigenen Universität stellten. Auch wenn sich die Rostocker unter Einschaltung ihres Herzogs beim Vatikan stark ins Zeug legten, um die Errichtung eines akademischen Konkurrenzunternehmens in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft zu verhindern, wurde dem Antrag des Greifswalder Rates nach jahrelangen Auseinandersetzungen schließlich stattgegeben und die Universität Greifswald konnte zu Beginn des Wintersemesters 1456/57 gegründet werden (8).
Geht man die Reihe der tragenden Gestalten durch, die mit der Frühgeschichte der Burschenschaft in hervorragender Weise verbunden sind, kommt man an vielen Namen nicht vorbei, die einen engen landsmannschaftlichen Bezug zu Mecklenburg und Vorpommern aufweisen. Ernst Moritz Arndt gehört ebenso dazu wie Turnvater Friedrich Ludwig Jahn sowie Karl Horn, einer der Mitbegründer und ersten Sprecher der Jenaischen Burschenschaft, oder der ebenfalls aus Mecklenburg stammende Heinrich Arminius Riemann, der 1817 die Festrede bei der Wartburgfeier hielt.
Im Zentrum aber der Beziehungen zwischen Mecklenburg und der Deutschen Burschenschaft, zwischen Rostock und Jena, steht die Gestalt Fritz Reuters. In seiner Biographie schlagen sich zeittypische Elemente der Epoche der Restauration ebenso nieder wie die Tragik der liberalen deutschen Studentenbewegung des frühen 19. Jahrhunderts, deren revolutionärer Beitrag zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte bis auf den heutigen Tag umstritten ist.
"Je, Rostock! - Jeden Meckelnbörger geiht dat Hart up un männigmal ok de Geldbüdel, wenn von Rostock de Red' is ... De Seestadt Rostock is de Up- un Dal-Sprung för jeden richtigen Mekkelnbörger. Ok min Upsprung is sei mal west, as ick von de groten Schaulen mal 'ne Tram höger up de Universetät hüppen ded." (9) So enthusiastisch beschrieb der mecklenburgische Heimatdichter aus der Erinnerung seines Alters seinen Einzug in die pulsierende Universitäts- und Seestadt Rostock, die ihn sogleich mit ihrem bewegten Verbindungsleben voll in Anspruch nehmen sollte. Während seiner Pennälerzeit, die er überwiegend außerhalb seiner Heimatstadt Stavenhagen, in der sein Vater Bürgermeister war, in Friedland und Parchim auf den dortigen Gymnasien verbracht hatte, ist er frühzeitig von der Faszination des burschenschaftlichen Studentenlebens berührt worden. Nicht nur die Bekanntschaft zwischen den Familien Reuter und Jahn in Stavenhagen und der Umstand, daß der Turnvater Jahn einige Jahre vor Reuters Schulzeit in Friedland dortselbst gelehrt und seine Spuren hinterlassen hatte, waren dafür maßgebend. Während seines Schulbesuchs in Friedland (1824-1828) war Prorektor und Turnwart seines Gymnasiums jener Karl Horn, der 1815 zu den Mitbegründern der Jenaischen Burschenschaft gehört hatte. Kein Wunder, daß Jena und die Burschenschaft dem Pennäler Fritz zu einem festen Begriff geworden waren.
Die auffällige Betonung des Turnsports in der schulischen Ausbildung jener Zeit erklärt sich daraus, daß in der Erziehung zur körperlichen Ertüchtigung eine verdeckte Form des Aufbegehrens gegen die französische Besatzung gesehen wurde. Daher ist interessant, daß die Turnbewegung in der Zeit der Befreiungskriege von den fürstlichen Obrigkeiten volle Unterstützung erhielt, weil die Turner begeistert in die preußischen Freiwilligenverbände übertraten, während die mit dem Turnsport zugleich verbundenen nationalen Bestrebungen nach 1815 in einen immer stärkeren Gegensatz zur restaurativen Politik der Regierungen Preußens und der meisten anderen deutschen Staaten gerieten, so daß die Demagogenverfolgung bald auch die Turnbewegung einschloß (10).
Im Nebenverweis sei angemerkt, daß die starke Ausrichtung der US-amerikanischen Universitäten auf sportliche Ertüchtigung als ein noch heute nachwirkendes Erbe der während der Demagogenverfolgung in stattlicher Zahl nach Amerika vertriebenen Burschenschafter angesehen werden kann. Dieser Zusammenhang zwischen burschenschaftlicher Frühgeschichte und amerikanischer Geistesgeschichte ist bisher wenig erforscht und dies dürfte einer der Gründe für die Unterbewertung des Beitrags der liberalen deutschen Studentenbewegung des frühen 19. Jahrhunderts zur gemeinsamen Geistes- und Rechtsgeschichte Deutschlands und Nordamerikas sein. Beispielhaft sei der Gießener Urburschenschafter Karl Follen (1796-1840) genannt, der als Emigrant in den amerikanischen Oststaaten zu einem hochgeehrten Hochschullehrer der Literaturwissenschaft, Theologie und Rechtswissenschaft u.a. an der Harvard University in Cambridge wurde, sich einen Namen als Anwalt der Sklavenbefreiung machte und in Cambridge wie im benachbarten Boston die ersten Turnschulen der Neuen Welt gründete (11).
Formalrechtlich waren zwar Mecklenburger nicht vom Verbot der preußischen Regierung betroffen, das seinen Staatsbürgern das Studium in Jena untersagte. Aber der obrigkeitstreue Vater Reuter, zudem in seinem Amt als Bürgermeister, wandte sich gegen das Ansinnen seines Sohnes, nach nur einsemestrigem Aufenthalt in Rostock nach Jena zu gehen. Fritz Reuter fühlte sich aber vom liberalen Regiment des Großherzogs Karl August von Sachsen-Weimar derart angetan, daß er die weitsichtige Warnung seines Vaters in den Wind schlug. Sechshundert Studenten dachten wie er und machten Jena, dessen Ansehen durch gezielte Berufung liberaler Professoren und der demonstrativen Verleihung der Ehrendoktorwürde an Turnvater Jahn im Jahr 1817 geprägt wurde, zur meistfrequentierten Universität in Deutschland.
Der Mecklenburger kam zum Sommersemester 1832 zusammen mit seinem Freund Krüger nach Jena und meldete sich am 23. Mai bei der Burschenschaft aktiv. Der Aufnahmeantrag wurde am 10. Juli verhandelt. Wegen seiner Vorliebe für das Kneipenleben erhielt er acht Gegenstimmen, was aber dennoch zur Dreiviertel-Mehrheit reicht. Ausgerechnet anläßlich des Aufnahmeantrags Fritz Reuters kam es zur erneuten Spaltung der Jenaischen Burschenschaft in die korporativ-gemäßigten Arminen und die politisch-radikalen Germanen (12).
Damit wurde in Jena nachvollzogen, was an anderen deutschen Universitäten seit der Juli-Revolution 1830 in Frankreich bereits zur Radikalisierung und Spaltung der Burschenschaften geführt hatte. Zwar hatte der Ausgang der polnischen Revolution vorübergehend die Wiedervereinigung beider Lager herbeigeführt, aber bereits seit dem Hambacher Fest vom 27. Mai 1832, auf dem die Burschenschaften staatliche Einheit und Volkssouveränität forderten, gährte es auch wieder in Jena. Am 13. Juli 1832 konstituierten sich beide Lager als selbständige Verbindungen. Während sich die Mehrheit für die gemäßigten Arminen entschied, zog es nur eine Minderheit zu den Germanen, weshalb sie aus dem Burgkeller in den Fürstenkeller umziehen mußten. Wortführer der Germanen war der Mecklenburger Karl Frank, dem sich Fritz Reuter mehr aus landsmannschaftlicher Zuneigung denn aus politischer Überzeugung anschloß. Freimütig hatte Reuter später vor Gericht seine Sympathie für die Flüchtlinge der gescheiterten polnischen Revolution bekundet, die zeitgleich mit ihm 1832 in Jena eingetroffen waren.
"In der Verbindung dachte ich zuerst ziemlich wenig oder gar nicht an Politik, bis der weitere Verlauf der polnischen Revolution mir eine Veranlassung dazu wurde. Ich mußte ein Volk bewundern, das sich aus eigenem Kraftgefühl gegen Unterdrückung erhoben hatte und anerkennen, daß die Nationalität des Volkes sich wieder glänzend zeigte; deshalb feierte ich das Fest (zur Erinnerung an die polnische Erhebung gegen den Zaren, Anm.) aus voller Überzeugung mit." (13)
Aber ein Revolutionär, der sich zur Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung bekannte und aktiv auf einen Volksaufstand hinarbeitete, wie es der Stuttgarter Burschentag 1832 von jedem Burschenschafter gefordert hatte, wollte Fritz Reuter nicht sein. Er trat daher, als es in Jena zu kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Parteien unter Hinzuziehung von Militär kam, aus der Burschenschaft aus. Die weitere Zuspitzung der Lage nach dem Frankfurter Wachensturm im April 1833 veranlaßte Vater Reuter, seinen Sohn nach Stavenhagen zu-rückzubeordern. Nachdem er den Sommer im Elternhaus verbracht hatte, machte er sich unbegreiflicherweise wieder auf den Weg nach Berlin und Leipzig, um sein Studium fortzusetzen, wurde aber wegen seiner bekundeten Mitgliedschaft in der Burschenschaft abgewiesen. Auf der Rückreise wurde er am 31. Oktober 1833 in Berlin verhaftet, kam in Untersuchungshaft und wurde am 28. Januar 1837 zum Tode verurteilt unter gleichzeiti-ger Begnadigung zu dreißig Jahren Festungshaft (14).
Nach siebenjähriger Verbüßung seiner Strafe wurde Fritz Reuter 1840 begnadigt. Seine wohl berühmteste Schrift "Ut mine Festungstid" ist diesem Kapitel seines Lebens gewidmet. Auch wenn die Universität Rostock ihn fast ein Vierteljahrhundert später (1863) mit der Ehrendoktorwürde auszeichnete und er die letzten sieben Jahre seines Lebens im Schatten der von ihm so heiß geliebten Wartburg in Eisenach verbringen durfte, wo er am 12. Juli 1874 starb, konnte die Tragik seines Lebens dadurch nicht getilgt werden. Die Enterbung mit dem Tod seines Vaters 1845, der es zeitlebens nicht verwinden konnte, daß sein Sohn mit den herrschenden Obrigkeiten in Konflikt geraten war, ist in seiner Symbolkraft wohl nur mit der Ausladung der Deutschen Burschenschaft von der 150-Jahr-Feier des 1848er "Burschenschafter"-Parlaments in diesem Jahr in der Paulskirche durch die Frankfurter Stadtverwaltung zu vergleichen.
Was die Beziehungen Mecklenburgs zur burschenschaftlichen Geschichte betrifft, können diese nicht inniger als in dem Umstand zum Ausdruck kommen, daß auf dem im Gründungsjahr der Rostocker Obotriten,1883, in Jena enthüllten Burschenschafterdenkmal unter jenen drei dort mit ihren Bildnissen verewigten Urburschenschaftern, die maßgeblich das Wartburgfest von 1817 gestaltet hatten: Karl Hermann Scheidler, Karl Horn und Heinrich Arminius Riemann, zwei Mecklenburger sind.
Literatur
(1) Krogmann, Willy: Obotritia 1883-1965, Hamburg 1965 (Privatdruck)
(2) Wentzke, Paul: Geschichte der Deutschen Burschenschaft, Erster Band, Heidelberg 1965, S. 57;
(3) Koch, Friedrich: Heinrich Arminius Riemann, der Wartburgredner vom Jahre 1817, (Neuauflage), Lahr 1992
(4) zitiert nach (1), S. 5;
(5) Stamm-Kuhlmann, Thomas: König in Preußens großer Zeit (Friedrich Wilhelm III), Berlin 1992, S. 425 ff;
(6) Krogmann, Willy: Universität und Studentenleben in Rostock, in: Burschenschaftliche Blätter Jg. 75 (1960), S. 116 ff;
(7) Ziegler, Konrat: Fünfhunder Jahre Universität Greifswald, Hamburg 1956, S. 23 f;
(8) Zahnow, Ernst: Die Gründung der Greifswalder Universität, in: Fünfhundert Jahre Universität Greifswald, Hamburg 1956, S. 7;
(9) Reuter, Fritz: Gesammelte Werke und Briefe, Hrsg. Kurt Batt, Rostock und Neumünster 1967, Bd. VI, S. 251;
(10) Töteberg, Michael: Fritz Reuter in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Hamburg 1978, S. 16;
(11) Haupt, Hermann: Karl Follen, in: Hermann Haupt und Paul Wentzke (Hrsg.): 100 Jahre Deutscher Burschenschaft - Burschenschaftliche Lebensläufe, Heidelberg 1921, S. 25 ff;
(12) Keil, Richard u. Robert: Geschichte des Jenaischen Studen- tenlebens von der Gründung der Universität bis zur Gegen- wart, Leipzig 1858, S. 537;
(13) Gaedertz, Karl Theodor: Fritz Reuter, Leipzig o.J., S. 64;
(14) s. zu (10), S. 34 f;
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erschienen in: BBL Ausgabe 3/98